Was wir oft so von Anderen denken
von Thomas Enders, 23.04.2025
Durchblick
Ein junges Ehepaar zieht in eine neue Nachbarschaft. Beim Frühstück am nächsten Morgen sieht die junge Frau ihre Nachbarin draußen beim Aufhängen der Wäsche. „Diese Wäsche ist nicht besonders sauber“, sagt sie. „Sie weiß nicht, wie man richtig wäscht. Vielleicht braucht sie auch ein besseres Waschmittel.“ Ihr Mann sieht hin, bleibt aber still. Jedes Mal wenn ihre Nachbarin die Wäsche zum Trocknen aufhängt, macht die junge Frau die gleiche Bemerkung. Ungefähr einen Monat später sieht sie plötzlich im Nachbargarten schöne saubere Wäsche an der Leine hängen. Freudig überrascht sagt sie zu ihrem Mann: „Guck mal, endlich hat sie gelernt, wie man richtig Wäsche wäscht! Ich frage mich, wer ihr das beigebracht hat.“ Daraufhin entgegnet ihr Mann trocken: „Heute morgen bin ich früh aufgestanden und habe unsere Fenster geputzt.“ (aus: Der Andere Advent 1/2017)
Was sagt mir diese Geschichte, was sagt sie uns? Fehlt mir, fehlt uns nicht auch manchmal der Durchblick?
Durch und Blick: Zwei Worte.
Durch, hindurch, also vielleicht dahinter, tiefer und nicht nur die Vorderansicht.
Blicken – sehen, wahrnehmen, Gespür für etwas bekommen.
Sagen wir nicht auch oft: „Der hat doch keinen Durchblick“ oder: „Ich blicke da nicht durch“. Das heißt dann doch soviel wie: „Ich habe keine Ahnung wie das zusammenhangt, wie das gehen soll.“ Oder: „Der hat doch keinen blassen Schimmer.“ Und, das ist das Fatale daran, ich bilde mir aufgrund des fehlenden „Durchblicks“, des mangelnden „Dahinter Schauens“ ein falsches Urteil und tue einem anderen Unrecht.
Richard Rohr, ein amerikanischer Franziskanerpater, schreibt in seinem Buch „Wer loslässt wird gehalten“ darüber, dass wir „die Brille putzen sollen“: „Je mehr wir zu einer betrachtenden Haltung finden, desto klarer wird, dass wir durch unsere inneren Dialoge und Voreingenommenheiten,wie Angst, Wut und Wertungen – weit mehr bestimmen als wir zugeben wollen, Wir bestimmen, was wir sehen und was nicht, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten und worauf nicht. Das ist gemeint mit dem „Putzen der Brille“: Wir müssen unsere Ego-Programme aus dem Weg räumen, so dass wir die Dinge sehen, wie sie sind.“
In unserer Geschichte hat der Mann die Fenster geputzt. Vielleicht, ja sicherlich, ist es notwendig, dass mein Fenster, dass unsere Fenster – die Fenster unserer Herzen – immer wieder mal geputzt werden.
Wenn wir manches oft nur eingetrübt (nicht richtig sauber) sehen und nicht richtig erkennen, bleibt es verschwommen und es entstehen Halbwahrheiten, Missverständnisse und Unverständnis. So reden wir dann aneinander vorbei, ärgern uns aneinander und werden schlimmstenfalls verbittert.
Es könnte doch Gottes guter Heiliger Geist sein, der uns beim Putzen der Herzensfenster hilft. Am Pfingstfest feiern wir seine Gegenwart jedes Jahr aufs Neue. Vielleicht haben wir bisher seine angebotene Hilfe zu wenig in Anspruch genommen. Aber wir können ihn bitten, bei uns den Frühjahrsputz zu übernehmen. Das könnte uns und unserer Gemeinde nur guttun.